Damit hat Elisabeth Seitz nicht gerechnet. Als wären die vergangenen neun Monate nach ihrem Achillessehnenriss nicht schon genug von Sorgen geprägt gewesen, muss sich die deutsche Turn-Rekordmeisterin unmittelbar vor der entscheidenden Olympia-Qualifikation auch noch mit Hass im Internet auseinandersetzen.
«Die Stimmung ist aktuell natürlich angespannt, aber das Ganze von außen mit falschen Behauptungen, Fehlinformationen, Hasskommentaren usw. anheizen zu wollen, ist wirklich armselig…», schrieb die 30 Jahre alte Stuttgarterin bei Instagram. Sie bitte alle «Beteiligten damit aufzuhören, Hasskommentare gegen mich oder auch andere Mitstreiterinnen zu verfassen».
Der offensichtliche Anlass: Bei den deutschen Meisterschaften hat sich der Zweikampf um das letzte Olympia-Ticket zwischen ihr und der aufstrebenden Helen Kevric zugespitzt. Am Samstag entscheidet sich in Rüsselsheim, wen von beiden der Deutsche Turner-Bund (DTB) nach Paris schickt: die erfahrene Stufenbarren-Europameisterin von 2022 oder die erst 16 Jahre alte deutsche Mehrkampf-Meisterin. Oder wird gar die Chemnitzerin Karina Schönmaier an ihrem Paradegerät Sprung die lachende Dritte?
Achillessehnenriss und der Weg zum 26. Titel
Für Elisabeth Seitz wären die Olympischen Spiele in Paris ihre vierten und zugleich die Krönung eines extrem harten Weges. Anfang September vorigen Jahres riss sie sich beim Bodentraining die rechte Achillessehne. Bei den Weltmeisterschaften in Antwerpen einen Monat später musste sie auf der Tribüne mit einem Spezialschuh am Fuß hilflos mit ansehen, wie ihre Auswahlkolleginnen die Olympia-Qualifikation als Team verpassten. So gab es für den DTB statt der erhofften fünf Startplätze nur drei, von denen vom Weltverband (Fig) zwei bereits namentlich an Pauline Schäfer-Betz (Chemnitz) und Sarah Voss (Köln) für deren WM-Resultate vergeben sind.
«Ich werde nun um den nicht namentlichen Spot kämpfen müssen. Aktuell ist das eine sehr bittere Pille, das muss ich noch verdauen», hatte Zuschauerin Seitz damals gesagt – und anschließend ihren täglichen Kampf ums Comeback aufgenommen. «Das war wie eine Gratwanderung zwischen Reha und Training, und das hat im Kopf ganz viel ausgelöst, gestresst, ganz viel Druck, auch Ängste, dass es nicht reicht. Das stand auch immer im Raum», berichtete sie bei den deutschen Meisterschaften in Frankfurt/Main, wo sie vor knapp zwei Wochen am Stufenbarren Gold und damit ihren 26. nationalen Titel gewann.
Volle Tage und Sorgen um richtige Schritte
Weil nach dem Team-Aus für Paris die Nominierungskriterien angepasst wurden, konnte sich die Olympia-Vierte von Rio de Janeiro auf dem Weg zurück auf die Turn-Bühne ganz auf ihr Spezialgerät Stufenbarren konzentrieren. «Eigentlich war mein Tag immer so voll, weil ich ja diese zwei Aufgaben hatte: Reha und das normale Training», sagte Elisabeth Seitz. Und alles musste ausbalanciert sein. «Wenn ich mit der Reha den einen Schritt noch nicht gegangen bin, kann ich auch im Training den anderen Schritt nicht gehen.» Da habe sie nicht nur auf ihren Körper hören können, sondern auch auf Ärzte und Physiotherapeuten. «So was hatte ich noch nie in so einer extremen Form, weil ich wusste, wenn jetzt ein kleiner Fehler passiert in den Schritten, dann ist wirklich alles vorbei», beschrieb sie ihre Sorgen.
Die Mühen der vergangenen Monate haben sich gelohnt. Die 14,750 Punkte für ihren meisterlichen Vortrag am Stufenbarren hätten für Platz drei bei den Olympischen Spielen in Tokio oder zum Europameister-Titel in diesem Jahr gereicht. «Damit stelle ich mich mit ins Rennen um das Olympia-Ticket.» Dennoch ist Seitz ins Hintertreffen geraten gegenüber ihrer Stuttgarter Club-Kollegin Kevric, die durch ihren tadellosen Mehrkampf in Frankfurt nach den Nominierungsrichtlinien vorn liegt. «Helen ist in der Pole Position», hatte Bundestrainer Gerben Wiersma klargestellt.
Olympia-Showdown in Rüsselsheim
In Rüsselsheim kommt es nun zum Showdown. «Die Eli hat schon viel Erfahrung, was auch ein bisschen ein Vorteil für sie ist. Aber ich habe auch schon einige Wettkämpfe geturnt und ich weiß, was auf mich zukommt. Ich gehe ans Gerät, ich gebe alles, weil ich nichts zu verlieren habe. Entweder Vollgas oder nichts», sagte Ausnahmetalent Kevric.
Für Seitz geht es nun darum, noch einige Zehntel im Vergleich zu den Meisterschaften zuzulegen. «Ich versuche, mir nicht vorzunehmen, über mich hinauszuwachsen. Das macht immer noch Stress», meinte die 30-Jährige. Sie hoffe, ihre Übung noch einmal so zeigen zu können wie in Frankfurt. «Und dann liegt es nicht mehr in meiner Hand. Dann habe ich getan, was in meiner Macht war», sagte Seitz.