Für Boris Becker ist die Sache klar. «So gewinnt Alexander Zverev die Australian Open», sagte Deutschlands Tennis-Legende nach dem spektakulären Viertelfinalsieg von Zverev gegen Wimbledonsieger Carlos Alcaraz beim ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres.
Und in der Tat ist Zverev in dieser Form ein Kandidat für den Titel. Die Leistung gegen den spanischen Weltranglisten-Zweiten war seine beste seit den French Open 2022, als er Rafael Nadal im Halbfinale am Rande einer Niederlage hatte – ehe ihn die schwere Fußverletzung ausbremste.
«Damals war ich auf der Höhe meines Tennis», sagte Zverev in Melbourne. Nun nähert sich der Olympiasieger diesem Status wieder an. «Im vergangenen Jahr war ich bei den Grand Slams nicht wirklich ein Anwärter auf den Titel», räumte der 26-Jährige ein. Das ist nun wieder anders.
Zverevs neue Reife
«Ich habe in der Vorbereitung extrem hart gearbeitet», sagte Zverev. Auch das ist ein Unterschied zu vor einem Jahr, als für Zverev in Melbourne bereits in der zweiten Runde Schluss war. «Letztes Jahr ging es in der Vorbereitung darum, meinen Fuß wieder hinzubekommen. Dieses Mal habe ich in der Vorbereitung sehr viel physisch gearbeitet, ich habe an mir gearbeitet», sagte Zverev. «Von der physischen Seite her gibt es kaum einen Spieler, der mehr arbeitet als ich.»
Neben der körperlichen Fitness kommt bei Zverev eine neue Reife auf dem Platz hinzu. Flogen in der Vergangenheit schon einmal seine Schläger über den Platz oder gab es immer mal wieder Wortgefechte mit seinem Team auf der Tribüne, präsentiert sich Zverev in diesen Tagen am Yarra River erstaunlich ruhig und besonnen. Sowohl was negative als auch positive Reaktionen angeht.
Zverev wird in Melbourne viel auf diese Wandlung angesprochen. Für ihn selbst ist sie gar nicht so offenkundig. «Ich finde, dass ich schon seit eineinhalb bis zwei Jahren ruhiger und erwachsener geworden bin. Das ist ja auch eine Weiterentwicklung als Person», sagte Zverev. Vor rund zwei Jahren war er beim Turnier im mexikanischen Acapulco ausgerastet und hatte mit dem Schläger gegen den Schiedsrichterstuhl geschlagen. Die danach auf ihn einprasselnde berechtigte Kritik hat ihn nachdenklich werden und reifen lassen.
Nun gegen den Dauerrivalen
Die neue Reife und Ruhe wird Zverev auch am Freitag (9.30 Uhr MEZ/Eurosport) gegen seinen Dauerrivalen Daniil Medwedew brauchen. Mit dem Russen verbindet Zverev eine ganz besondere Rivalität, Freunde werden die beiden nicht mehr. Das wird auch in einer Folge der zweiten Netflix-Staffel der Serie «Break Point» deutlich, die noch einmal die Geschehnisse beim Achtelfinale von Monte-Carlo im Frühjahr 2023 in den Mittelpunkt rückt.
Damals hatte Zverev Medwedew nach der Dreisatz-Niederlage als einen «der unfairsten Spieler der Welt» bezeichnet, weil dieser den Deutschen mit einigen Psychospielchen zur Verzweiflung getrieben hatte. Der Russe konterte süffisant: «Er lebt in seiner eigenen Welt.»
18 Mal standen sich Zverev und Medwedew in ihrer Karriere bereits gegenüber, allein im vergangenen Jahr gab es sechs Duelle – fünfmal gewann der Russe. Ein Fingerzeig für die Partie am Freitag? Für Zverev nicht. «Er war letztes Jahr in Bestform, ich kam zurück aus einer Verletzung, mein Selbstvertrauen war nicht da», sagte Zverev. «Und dann lässt man sich durch vieles rausbringen. Das hat er letztes Jahr gut genutzt. Ich hoffe, dass ich in diesem Jahr ein anderer Spieler bin.»
Becker von Zverev begeistert
Gegen Alcaraz war er das definitiv. Nachdem Zverev in den Runden zuvor noch alte Schwächen offenbart und oft viel zu passiv agiert hatte, lieferte er gegen den wuchtigen Spanier eine Meisterleistung. Aggressiv und dominant vom ersten Punkt an – so hatte man Zverev in seiner Karriere gegen Spitzenspieler noch nicht oft gesehen. Auch Ausdruck seines neuen Selbstbewusstseins. «Ich bin wieder unter den Top Sechs der Welt, habe wieder große Turniere und auch große Matches gespielt», nannte Zverev den größten Unterschied zu vor einem Jahr.
Der Lohn: Der erste Sieg gegen einen Top-Fünf-Spieler bei einem Grand-Slam-Turnier und das siebte Halbfinale seiner Karriere bei einem der vier großen Events. «Das war der beste Zverev, den ich je gesehen habe», schwärmte Becker als TV-Experte bei Eurosport.
Zverev selbst hielt sich zurück. Genugtuung ja, Überschwang nein. «Ich bin erst im Halbfinale, habe das Turnier noch nicht gewonnen», sagte Zverev, der sich mit schmerzhaften Blutblasen an den Füßen herumplagt. Am Donnerstag stand daher im Melbourne Park nur leichtes Schlagtraining auf dem Programm. Ansonsten ging es vor allem um die mentale Vorbereitung auf Medwedew. «Es wird Dinge geben, die mir nicht gefallen und es wird Dinge geben, die ihm nicht gefallen. Das wird Teil des Matches sein», sagte Zverev.