Der Trainer schwer in der Kritik, der Kapitän ein Corona-Fall, der Mittelstürmer bedroht, die Fans auf Abstand: Es lief viel schief bei Spaniens Fußball-Nationalmannschaft.
Doch binnen zwei Wochen haben sich die Spanier vom Sorgenfall zum tatsächlichen Titelkandidaten hoch und vor allem eingespielt. Und so fiel es Coach Luis Enrique auch nicht schwer, am Donnerstag auf die Frage, ob er eine bessere Mannschaft bei dem EM-Turnier gesehen habe als Spanien, nach kurzer Bedenkzeit mit einem klaren «Nein» zu antworten. Danach stand er auf, seine mit etwas Verspätung begonnene Pressekonferenz war mit einer Titelansage zu Ende gegangen.
Nicht Deutschland, sondern das Team des hartnäckigen Ausdauersport-Liebhabers zeigt die berüchtigten Turnierqualitäten. «Große Mannschaft werden durch Widrigkeiten geschmiedet», betont Torwart Unai Simón.
Weltmeister-Bezwinger Schweiz soll die wild gewordene «rote Furie» im Viertelfinale an diesem Freitag in St. Petersburg (18.00 Uhr/ZDF und Magenta TV) auch nicht aufhalten auf dem Weg zum angestrebten Ruhmestag im Wembley-Stadion. «Es ist am Anfang viel passiert», betonte Verteidigier César Azpilicueta in einem Interview der Sportzeitung «Marca»: Nicht alles sei so gewesen, wie man es sich vorstelle. «Aber das macht die Lust nur noch größer, voranzukommen.»
«Wir müssen hungrig sein, um es in die nächste Runde zu schaffen», sagte Luis Enriques Pendant auf der Schweizer Bank. «Wir wollen es in die nächste Runde schaffen, auch wenn wir in Spanien auf einen der Favoriten treffen», ergänzte Coach Vladimir Petković. «Wir müssen noch einmal über unsere Grenzen gehen», meinte der ehemalige Bayern-Profi Xherdan Shaqiri.
Treffersichheit wieder da
Den Vizeweltmeister Kroatien haben die Spanier im Achtelfinale aus dem Turnier befördert und nach dem 5:0 im letzten Gruppenspiel gegen die Slowakei mit einem 5:3 auch die letzten Zweifel an der Treffsicherheit der Mannschaft beiseite geräumt. Die Bilanz gegen die Schweiz ist bislang auch blendend: Nur eine Niederlage gab es in 22 Begegnungen. Dass die 2010 zum Auftakt bei der WM passierte – nur noch eine Randnotiz, denn die Schweiz schied in der Gruppenphase trotzdem aus und Spanien wurde Weltmeister.
Und während bei den Spaniern Kapitän Sergio Busquets, bereits zweimaliger «Man of the Match» und schon vor elf Jahren beim 0:1 im südafrikanischen Durban dabei, nach seiner überstandenen Corona-Infektion wieder eine entscheidende Rolle zukommt, muss der Schweizer Kapitän das Spiel als Zuschauer verfolgen. Granit Xhaka, einst bei Borussia Mönchengladbach, fehlt wegen einer Gelbsperre. «Es wurde so viel geschrieben und gesagt über diese Mannschaft. Die Mannschaft ist arrogant, Friseure, Tattoos, Autos», hatte dieser nach dem überraschenden Viertelfinaleinzug getönt: «Ich glaube, wir haben sehr vielen das Maul gestopft.»
Und nun? Ohne ihn könnte es umso mehr es auf einen aktuellen Profi von Borussia Mönchengladbach in der Bundesliga erprobten «Nati» ankommen: Torhüter Yann Sommer, Held im Elfmeterschießen gegen Frankreich. Zehn Tore in 210 Minuten haben die Spanier zuletzt erzielt. 23 Torabschlüsse waren es gegen Kroatien, 17 gegen die Slowakei. Auf der Gegenseite ließ die Defensive der Spanier deutlich weniger Gelegenheiten zu.
Spaniens Coach bleibt cool
Es ist die Spielweise von Luis Enrique, der sich auch von der Kritik am kleineren Kader als möglich, an der Nichtnominierung auch nur eines Real-Profis oder auch von den schweren Unmutsbekundungen Richtung Mittelstürmer Alvaro Morata nicht von seinem Konzept abbringen ließ. Er setzt auf einen 18 Jahre alten Teenager namens Pedri, der alle Spiele komplett absolviert hat und bisher die drittmeisten Kilometer aller EM-Akteur rannte. Der ehemalige Offensivspieler verteidigte seine Spieler gegen Kritik noch mehr als sich selbst.
Während um seinen Kollegen Vladimir Petkovic ausgerechnet vor dem Spiel um den Einzug in die Runde der besten vier Mannschaften in Europa wilde Spekulation um einen Wechsel in die Türkei zu Fenerbahce Istanbul nicht gerade für Ruhe sorgen, hat Luis Enrique die Lage um seine Person erstmal befriedet. Die spanischen Blätter sind voll des Lobes. «Luis Enrique entflammt Spanien: Von der Distanz zur Leidenschaft», huldigte jüngst «ABC». Die Spieler stellen klar: «Natürlich» (Azpilicueta) sei Luis Enrique ihr Anführer.
Teams überzeugen als Kollektiv
Denn bei aller Euphorie, die die Schweizer durch ihr Weiterkommen gegen die Franzosen ebenso wie die Spanier bereits durch den Kantersieg gegen die Slowaken in der Heimat entfacht haben, fehlen beiden Mannschaften die ganz großen Namen. Beide Teams zeichnen sich vor allem als Kollektiv aus. Und dass das für die Spanier auch Gefahren birgt, wissen sie selbst. Der Respekt ist spübar.
«Sie pressen, sie machen es einem schwer», betonte Angreifer Ferran Torres in einem Interview der Sportzeitung «As» – die Erinnerungen an die beiden knappen Partien in der Nations League sind auch noch zu präsent. Im Oktober 2020 hatten die Spanier das Heimspiel in Madrid mit 1:0 gewonnen. Einen Monat später rettete ein Tor in der 89. Minute durch Gerard Moreno die Spanier beim 1:1 in Basel vor einer Niederlage.
Die voraussichtlichen Aufstellungen:
SCHWEIZ: 1 Sommer – 4 Elvedi, 5 Akanji, 13 Ricardo Rodriguez – 2 Mbabu, 8 Freuler, 23 Shaqiri, 14 Zuber – 19 Gavranovic – 9 Seferovic, 7 Embolo
SPANIEN: 23 Simón – 2 Azpilicueta, 12 Eric Garcia, 24 Laporte, 18 Jordi Alba – 8 Koke, 5 Sergio Busquets, 26 Pedri – 11 Ferran Torre, 7 Morata, 22 Sarabia
Schiedsrichter: Michael Oliver (England)