Sprinterin Lückenkemper und ein großes Ziel

Das größte Jahr ihrer Karriere bleibt für Gina Lückenkemper nicht nur wegen dreier Medaillen in Erinnerung. Was sie aus dem fantastischen Jahr 2022 mitgenommen habe? «’ne Narbe», sagt Deutschlands Sportlerin des Jahres und lacht dabei.

«Ich habe viel Motivation mitgenommen und diese Jetzt-erst-recht-Einstellung. Ich habe einfach unfassbar Bock auf diese Weltmeisterschaften.» Und die beginnen für sie am Sonntag in Budapest mit dem Vorlauf über 100 Meter. 

Unvergessen sind bei Deutschlands Leichtathletik-Fans die Bilder des EM-Medaillenmärchens von München. Wie Lückenkemper im 100-Meter-Finale als Europameisterin ins Ziel stürzte, sich dabei eine tiefe Fleischwunde am Knie zuzog, die mit acht Stichen genäht werden musste. Wenige Tage später führte sie auch die Staffel zur Goldmedaille und feierte erneut eingehüllt mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne. 

Die Wettkämpfe von München mit vielen Gänsehaut-Momenten für Lückenkemper & Co. waren der ersehnte Stimmungsaufheller für den Deutschen Leichtathletik-Verband, der wenige Wochen zuvor eine schwere WM-Enttäuschung wegstecken musste. Außer Gold durch Weitsprung-Olympiasiegerin Malaika Mihambo gab’s nur noch überraschend Bronze für die 4×100-Meter-Staffel um Lückenkemper. In der Einzelkonkurrenz war für die für Berlin startende Sprinterin auf Rang 13 im Halbfinale Schluss. Und genau das soll sich nicht wiederholen.

Lückenkemper will ins WM-Fianel sprinten

Bei ihrer fünften WM soll nun endlich das glücken, was seit über einem Vierteljahrhundert keiner deutschen Sprinterin mehr gelang: der Einzug in das Finale über 100 Meter. Melanie Paschke war 1997 bei den Titelkämpfen in Athen die bislang letzte Läuferin, die sich im WM-Endlauf mit den schnellsten Frauen der Welt messen durfte – und dort Sechste wurde.

«Ich glaube, ich bin in der besten Form meiner Karriere – bisher», sagte Lückenkemper vor ihrer fünften WM. «Ich bin so konstant mit meinen guten Zeiten unterwegs: fast schon erschreckend, fast ein bisschen gruselig – aber irgendwo total geil.» Allerdings ist die internationale Konkurrenz noch deutlich schneller unterwegs, die 26-Jährige geht auf Platz 16 der Meldeliste mit 11,00 Sekunden in den WM-Wettbewerb. Gleich acht Frauen liefen schon 10,90 Sekunden oder schneller.

«Mein großes Ziel ist, das 100-Meter-Einzelfinale zu erreichen. Das wird alles andere als eine leichte Aufgabe, aber wenn es leicht wird, würde es ja jeder machen», sagte die Studentin der Wirtschaftspsychologie, deren Bestzeit von der WM 2017 in London bei 10,95 Sekunden steht.

«Beflügelt» habe sie das großartige Jahr 2022, dazu habe es «eine gewisse Lockerheit» gegeben. Und besonders viel nimmt Lückenkemper von Trainer Lance Brauman mit, bei dem sie in den USA trainiert. «Er ist ein Meisterschaftstrainer und er hat ein unfassbares Feingefühl bei seinen Athleten», hob Lückenkemper hervor. «Seitdem ich da drüben trainieren darf, habe ich ein völlig neues Verständnis für meinen Sport bekommen.» Der «ganzheitliche Aspekt» gebe ihr sehr viel.

Lückenkemper und Linke DLV-Kapitäne

Durch den Ausfall mehrerer anderer Leistungsträger wie Mihambo ist Lückenkemper das wohl prominenteste Gesicht der deutschen Leichtathletik in Ungarn. «Sie hat eine tolle motivierende Rede gehalten, begeisternd. Sie hat eine gute Wirkung auf ihre Kolleginnen und Kollegen», berichtete Sportdirektor Jörg Bügner über die Ansprache der Kapitänin. Kapitän des Teams neben Lückenkemper ist der Geher Christopher Linke. Weltweit sei die Konkurrenz für Lückenkemper sehr stark, sagte Bügner. «Aber ich denke, dass sie auf europäischer Ebene gezeigt hat, dass sie zur absoluten Spitze gehört.»

Auch bei den Trainingskollegen wird Lückenkemper, die gerne Zeit mit Dackel Akira und Pferd Picasso verbringt, hochgeschätzt. «Das ist kein einfacher Weg, aus Deutschland in die USA zu gehen», sagte US-Sprintstar Noah Lyles. Trainer Brauman, dem die Arbeitsmoral und die Reaktion seiner Sportlerin auf Anpassungen sehr gefällt, traut der sonst in Bamberg wohnenden Lückenkemper sogar zu, irgendwann an den 40 Jahre alten deutschen Rekord von Marlies Göhr von 10,81 Sekunden ranzukommen. 

«Wenn er das sagt, dann wird das wohl so sein», sagte Lückenkemper. «Ich sage immer liebevoll, ich möchte mir keine Limits setzen, weil ich Sorge habe, dass ich mich dann limitiere. Ich möchte keine Limits und schauen, wohin die Reise geht.» Das erste wichtige Etappenziel wäre der Endlauf am Montagabend.

Von Christian Kunz und Robert Semmler, dpa