«Traum»: Marias Märchen geht mit Sieg über Niemeier weiter

Tatjana Maria hat das deutsche Viertelfinale gegen Jule Niemeier beim Rasen-Klassiker in Wimbledon gewonnen und ist nur noch zwei Siege vom Sensationstitel entfernt.

Herzlich umarmte Maria mit Freudentränen in den Augen ihre Gegnerin und steht nun bei ihrem Wimbledon-Märchen direkt vor dem nächsten emotionalen Höhepunkt. Nach dem Sieg im deutschen Viertelfinal-Krimi trifft die 34-Jährige im größten Spiel der Karriere auf ihre gute Freundin Ons Jabeur aus Tunesien. «Sie ist Teil meiner Familie, sie liebt meine Kinder», schwärmte Maria vor dem Halbfinal-Duell 7. Juli und berichtete von der innigen Beziehung der Weltranglisten-Zweiten zu ihren beiden Töchtern: «Sie spielt immer Tennis mit Charlotte, sie liebt Ceci.»

Schon direkt nach dem hart umkämpften 4:6, 6:2, 7:5 über Niemeier dachte Maria gerührt an die Geburt ihrer zweiten Tochter Cecilia vor nur 15 Monaten zurück. «Es ist ein Traum, das mit meiner Familie und meinen zwei kleinen Töchter zu leben», sagte Maria. «Vor gut einem Jahr habe ich entbunden. Es ist verrückt.»

An einem deutschen Tennis-Feiertag der großen Gefühle formte Niemeier zum Abschied vom Court 1 mit ihren Händen ein Herz. In 2:17 Stunden musste sich die 22 Jahre alte Dortmunderin ihrer zwölf Jahre älteren Kontrahentin geschlagen geben, durfte aber trotzdem stolz auf das beste Resultat ihrer Karriere sein. «Ich ziehe da meinen Hut vor, dass sie jetzt im Halbfinale steht mit zwei Kindern und das extrem gut gespielt hat», lobte sie ihre Gegnerin. «Ich bin sehr optimistisch, dass es nicht mein letztes Viertelfinale war bei einem Grand-Slam.»

Maria besaß in den entscheidenden Momenten die Nervenstärke und erreichte erstmals in ihrer langen Karriere bei einem Grand Slam das Halbfinale. Bei ihrer 35. Teilnahme an einem der vier größten Turniere des Jahres fehlen nun nur noch zwei Siege zum Sensationstitel. «Ich habe überall Gänsehaut. Es war so ein schweres Match gegen Jule», schwärmte Maria unter dem Jubel der Zuschauer. «Heute haben wir Deutschland wirklich stolz gemacht.»

«Stolz, dass wir so ein Match gespielt haben»

Die lange Umarmung am Netz nach ihrem Sieg war dabei auch Zeichen des gegenseitigen Respekts. «Ich hätte sie am liebsten gar nicht mehr losgelassen», sagte Maria lachend bei Sky. «Sie war super, sie hat sich wirklich für mich gefreut. Wir können stolz sein, dass wir so ein Match gespielt haben für Deutschland.»

Maria kassiert für ihren Erfolg umgerechnet 622 000 Euro und geht nun als Außenseiterin in das Duell mit Jabeur, die zuletzt das Vorbereitungsturnier in Berlin gewann. Niemeier erhält 360 000 Euro.

Maria ist nach den früheren Siegerinnen Steffi Graf und Angelique Kerber sowie Sabine Lisicki, Julia Görges und Bettina Bunge die erst sechste deutsche Halbfinalistin in der Geschichte des Profi-Tennis in Wimbledon. Damen-Bundestrainerin Barbara Rittner schwärmte: «Beste Werbung für das deutsche Damentennis. Ich bin sehr stolz auf Euch.»

In einer Reihe mit den ganz Großen

Nicht nur aus deutscher, sondern auch aus internationaler Sicht steht Maria in einer Reihe mit den ganz Großen. Vor ihr erreichten in Billie Jean King, Martina Navratilova, Chris Evert sowie Venus und Serena Williams nur frühere Champions das Halbfinale in Wimbledon im Alter von 34 oder älter. «Das ist unglaublich. Meinen Namen auf dieser Liste zu haben, das kann ich immer noch nicht glauben», sagte Maria voller Stolz.

Einige Schritte hinter ihrer Bundesliga-Kollegin des TC Bredeney aus Essen ging Maria vor Spielbeginn auf Court 1. Lächelnd posierten sie beim gemeinsamen Foto am Netz. Beim letzten Schluck aus der Wasserflasche auf der Bank grinste Niemeier in Richtung ihres Anhangs und erwischte einen Traumstart. Mit ihrer Vorhand setzte sie Maria früh unter Druck und nahm der Gegnerin direkt den Aufschlag ab.

Mit Angriffslust attackierte auch Maria am Netz und kämpfte sich langsam in die Partie. Die 34-Jährige hatte auch vor dem Match auf ihre normale Wimbledon-Routine gesetzt: Um halb neun stand zunächst das Training für die achtjährige Tochter Charlotte an, bevor sich Maria mit ihrem Ehemann und Trainer Charles-Edouard selbst warm spielte.

Es wurde ein Krimi

Beide Spielerinnen blieben im weiteren Verlauf des ersten Durchgangs stabil bei eigenem Aufschlag. Niemeier sicherte sich nach nur 43 Minuten durch einen Returnfehler von Maria den Auftaktsatz.

Niemeier schaffte erneut das schnelle Break. Mehrfach hatte sich Dauerläuferin Maria in diesem Turnier aus ausweglosen Situationen befreit und zeigte erneut ihr Kämpferherz. Per Volley im Knien schaffte sie den Ausgleich, ihr Mann auf der Tribüne jubelte. Auch unterstützt von mehreren Doppelfehlern und leichten Patzern Niemeiers übernahm Maria das Kommando, führte schnell 4:1. Der Satzball geriet spektakulär: Niemeier schlug den Ball im Rückwärtslaufen durch die Beine, Maria verwandelte per Volley eiskalt.

Es wurde ein Krimi. Niemeier breakte im entscheidenden Satz zum 3:2, blieb aber zu passiv und musste nach einem leichten Volleyfehler das 4:4 hinnehmen. Plötzlich war Maria wieder obenauf, zwei Punkte fehlten zum Matchgewinn, Niemeier blieb nervenstark und trieb das Publikum an. Nach einem unfassbar umkämpften Ball beim Stand von 5:5 mit besserem Ende für Maria erhoben sich zahlreiche Fans – und bejubelten wenig später die Siegerin.

Von Florian Lütticke, dpa