Oh weh, Oranje! Niederlandes Kapitän Georginio Wijnaldum stemmte seine Hände auf die Knie und verharrte fassungslos mit vorgebeugtem Oberkörper. Die entfesselten Tschechen um Torjäger Patrik Schick starteten noch auf dem Rasen einen Jubeltanz.
Nach einem Rot-Schock ist der vage Titeltraum der Niederlande bei der Fußball-EM schon im Achtelfinale zerplatzt. Der ideenlose Favorit scheiterte nach 35-minütiger Unterzahl in Budapest mit 0:2 (0:0) an seinem Angstgegner.
Tomas Holes (68.) und Bayer Leverkusens Schick (80.) mit seinem vierten Endrundentreffer schossen den leidenschaftlich kämpfenden Außenseiter zum ersten Mal seit 2012 wieder ins Viertelfinale, wo am Samstag in Baku Dänemark warten. In der 55. Minute hatte der niederländische Abwehrchef Matthijs de Ligt nach Videobeweis Rot gesehen. Bezeichnend: Erstmals seit 1980 hat Oranje bei WM oder EM keinen Schuss direkt aufs Tor abgegeben.
«Das Gefühl ist unwirklich»
«Mir fehlen die Worte. Ich bin stolz auf die Mannschaft, wir sind verdient im Viertelfinale», sagte Hoffenheims Pavel Kaderabek. Und Torschütze Holes meinte: «Das Gefühl ist unwirklich. Die Niederlande 2:0 vor vollem Haus und eigenen Fans zu schlagen, ist klasse. Wir waren unangenehm, haben ihnen keinen Platz gelassen.»
Wijnaldum hingegen konnte das Aus nicht fassen. «Das tut sehr weh, es ist schwer zu verkraften. Wir hatten einen kompletten Offday. Nach der Roten Karte waren wir recht machtlos. Es ist ein sehr komisches Gefühl, weil ich den Eindruck hatte, dass wir im Turnier gewachsen sind», sagte er.
Diskussion um Vielfalt und Gleichberechtigung
Zum Abschluss der Co-Gastgeberrolle von Budapest stand zunächst die Diskussion um Vielfalt und sexuelle Gleichberechtigung im Fokus. Ungarns Fußball-Verband hatte im Vorfeld die heimischen Fans zu Fairness aufgerufen. Verbandschef Sandor Csanyi bat die Zuschauer darum, die Nationalhymnen der jeweiligen Mannschaften nicht auszubuhen und «jegliche ausgrenzenden (rassistischen, homophoben, chauvinistischen) Äußerungen zu unterlassen».
Zuletzt waren ungarische Anhänger mit rassistischen Äußerungen gegen Frankreichs Kylian Mbappé aufgefallen. Zudem hatte die UEFA wegen des Verdachts «diskriminierender Vorfälle» beim letzten EM-Gruppenspiel des deutschen Nationalteams gegen Ungarn ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Dabei ging es unter anderem um «homophobe Sprechchöre».
Passend dazu trug der niederländische Kapitän Wijnaldum eine spezielle Armbinde mit der Aufschrift «One Love», womit die Mannschaft und er ein Zeichen gegen Ausgrenzung setzen wollten. Sponsoren unterlegten im Stadion ihre Bandenwerbung mit den Regenbogenfarben, zahlreiche der 52.834 Zuschauer hatten Utensilien wie Fächer, Fähnchen oder Masken in Regenbogenfarben dabei.
Kapitän Darida fehlte
Die Tschechen, die wegen einer technischen Panne an ihrem Flugzeug erst verspätet in Budapest angereist sind, mussten ohne ihren Stammkapitän Vladimir Darida von Hertha BSC auskommen. Der Mittelfeldspieler hatte sich im Training eine nicht näher genannte Verletzung zugezogen und wurde durch Tomas Soucek vertreten.
Dennoch war der nominelle Außenseiter ein ebenbürtiger Kontrahent im Duell des Gruppendritten gegen einen Gruppensieger. Spielerisch agierte Oranje bieder mit zu wenig Tempo und zu wenigen Anspielen in die Tiefe. Die Tschechen hielten körperlich gut dagegen und hatten durch Ersatzkapitän Soucek (22.) und Schick (28.) die ersten nennenswerten Chancen. Zudem stand die Abwehr sicher und stoppte die spielbegabten Memphis Depay und Co. mit großem Einsatz. Antonin Barak (38.) hatte gar die Halbzeitführung für die Tschechen auf dem Fuß, doch Abwehr-Ass de Ligt vereitelte die Möglichkeit in höchster Not.
De Ligt muss vom Platz
Der Profi von Juventus Turin musste dann in der 55. Minute vom Platz, weil er als letzter Mann gegen Schick den Ball mit der Hand spielte und so eine Torchance verhinderte. Referees Sergej Karassjow zeigte Rot nach Videobeweis. Drei Minuten zuvor hätte die Niederlande in Führung gehen können nach einem sehenswerten Angriff von Depay und Donyell Malen. Doch Tschechiens Keeper Tomas Vaclik ließ sich nicht düpieren. Auf der anderen Seite blieb ein Schuss des Hoffenheimers Pavel Kaderabek (64.) am Fuß von Denzel Dumfries hängen.
Dann aber nutzten die Tschechen ihre Überzahl zur Führung. Einen Freistoß von Barak legte Tomas Kalas per Kopf auf Tomas Holes vor, der wuchtig einköpfte (68.). Als Reaktion darauf verstärkte Bondscoach Frank de Boer die Offensive und brachte den Wolfsburger Wout Weghorst. Doch statt Weghorst war es Tschechiens Schick, der nach einem Konter zum 2:0 traf (80.) und mit seinem vierten EM-Tor den Außenseiter ins Viertelfinale schoss.