«Verdreschen unsere Pferde nicht»: Streit nach Schleu-Drama

Annika Schleu tauchte noch mal auf am Ort ihres großen Olympia-Dramas.

Am Sonntag besuchte sie den Männer-Wettkampf im Modernen Fünfkampf im Tokyo Stadium, die Teamkollegen anfeuern, aber nichts war normal für die Berlinerin am Tag nach der größten Enttäuschung ihrer sportlichen Laufbahn und den Beschimpfungen, die folgten. Womöglich war es auch bereits ein Abschiednehmen von ihrem Traum. Es ist fraglich, ob die 31-Jährige, die eine Mehrheit in Deutschland nun als heulende Sportlerin auf einem Pferd statt als Olympiasiegerin kennenlernte, in drei Jahren in Paris wieder antritt.

«Entscheidung noch offen»

«Dass diese Entscheidung noch offen ist, war aber bereits vor den Geschehnissen klar», sagte die dreimalige Olympia-Teilnehmerin am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur.

Die «Geschehnisse» waren die Minuten am Freitagabend, als Schleus zielstrebige Reise zur Goldmedaille jäh endete. Das Leih-Pferd, das die Sportlerinnen gemäß Reglement nur 20 Minuten lang kennenlernen können, wollte den Parcours erst nicht betreten und verweigerte beim Springreiten vor Hindernissen. Als die Probleme offensichtlich wurden, brach Schleu in Tränen aus und setzte verzweifelt die Gerte ein. Mit den Worten «Hau mal richtig drauf! Hau drauf!» war sie dazu – gut hörbar im Fernsehen – von ihrer Trainerin Kim Raisner aufgefordert worden. Raisner gab dem Pferd zudem einen Klaps mit der Faust.

«Ich fühle mich natürlich schon angegriffen, wenn gesagt wird, dass ich unmenschlich bin, wenn Vorwürfe der Tierquälerei geäußert werden. Ich bin nach bestem Gewissen mit dem Pferd umgegangen», sagte Schleu. «Es war schon klar, dass man etwas konsequenter werden muss, aber ich war zu keiner Zeit grob.»

Raisner weist Anschuldigungen zurück

Auch Raisner wies die Beleidigungen und Anschuldigungen zurück. «Im Nachhinein kann man vielleicht sagen, das war zu harsch. Ich weiß, auch dieser Klaps auf den Hintern, der hätte nicht sein müssen, aber der war nicht doll», sagte sie. «Ich bin weit davon entfernt, Tiere zu quälen. Ich liebe Tiere, ich liebe Pferde, genauso wie Annika. Wir verdreschen unsere Pferde nicht.»

Sie war am Tag danach vom Weltverband UIPM von den Olympischen Spielen ausgeschlossen und zuvor bereits vom Deutschen Olympischen Sport Bund von ihren Aufgaben in Tokio entbunden worden. Am Sonntag folgte noch eine weitere Negativnachricht: Teilmannschaftsleiterin Susanne Wiedemann wurde bei einem täglichen Antigen-Test positiv auf Corona getestet, wie der Deutsche Olympische Sportbund mitteilte.

Sicher ist, dass sich Szenen wie in Japan in der französischen Hauptstadt 2024 nicht wiederholen sollen. Darin sind sich alle einig: der UIPM, der DOSB, die sportliche Leitung des Deutschen Verbands für Modernen Fünfkampf (DVMF) und die Athletinnen und Athleten sowie alle Kritiker – darunter auch prominente Sportlerinnen wie Dressurreiterin Isabell Werth oder die Peking-Olympiasiegerin im Modernen Fünfkampf, Lena Schöneborn.

Warum es zu den für viele verstörenden und empörenden Szenen mit der weinenden Schleu auf dem offensichtlich verängstigten Saint Boy kam und wie das zukünftig zu verhindern ist, da gingen die Meinungen aber auch mit etwas Abstand auseinander.

Weltverbands-Präsident ändert Einschätzung

Selbst der deutsche Weltverbands-Präsident Klaus Schormann änderte seine Sicht und Einschätzung der Situation. In einer ersten Mitteilung des UIPM lobte er die Exzellenz der eingesetzten Pferde. «Es gibt keine Grundlage für die Sportler, sich zu beschweren», hieß es. Es habe nur an ihnen selbst gelegen, wenn sie in einigen Teilen des Wettbewerbs nicht erfolgreich gewesen seien, sagte Schormann.

Nach dem Männer-Wettkampf sah der 75-Jährige die Schuld dann aber beim Tierarzt. «Dieser Veterinär hat absolut versagt», urteilte er. Schließlich habe Saint Boy bereits bei der Russin Gulnas Gubaidullina drei Mal verweigert. «Wenn ich so etwas sehe, dann darf ich so ein Pferd nicht mehr loslassen», sagte Schormann. Laut Regelwerk ist erst bei vier Verweigerungen ein Wechsel für nachfolgende Reiterinnen oder Reiter vorgesehen, der Antrag von Raisner auf ein anderes Pferd wurde abgelehnt. «Man darf nicht nur die Regeln sehen. Man muss auch sehen, was zu tun ist. Man muss die Gesundheit des Pferdes schützen und die Athleten. Fairness muss die Nummer eins sein bei allem», sagte er.

Die kurze Zeit für das Aneinandergewöhnen von Mensch und Tier ist einer der zentralen Punkte der Kritiker. DOSB-Präsident Alfons Hörmann etwa möchte eine «grundsätzliche Überarbeitung der Frage: Ist ein kurzfristiges Zulosen eines Lebewesens überhaupt verantwortbar, wir reden nicht über ein Sportgerät. Es handelt sich um ein Tier aus Fleisch und Blut. 20 Minuten, um dann in den weltwichtigsten Wettbewerb zu gehen, sind im Grunde eine viel zu kurze Zeit.»

Werth: «System muss geändert werden»

Auch die siebenmalige Olympiasiegerin Werth argumentierte in diese Richtung. «Das ganze System muss geändert werden.» Das Pferd tue ihr leid, betonte die 52 Jahre alte erfolgreichste Reiterin der Welt. Die Tiere seien im Fünfkampf «nur ein Transportmittel».

Von einem Abschied der Reiterei im Modernen Fünfkampf, den Pierre de Coubertin sich als Neubegründer der Olympischen Spiele ausdachte als Wettstreit in den fordernsten Einzelsportarten, wollen die Leute aus der Branche aber nichts wissen. «Was wir da gestern erlebt haben, das kennen wir eigentlich gar nicht. Wenn dann die Frau Werth und andere sagen, geht doch auf den Roller, das ist alles ein absoluter Unsinn», echauffierte sich Schormann. Am Sonntag teilte die UIPM dann mit, am Reiten grundsätzlich festhalten zu wollen, aber das Geschehen «einer vollständigen Überprüfung» zu unterziehen und dabei «auch die Bedeutung des Wohlergehens der Pferde und der Sicherheit der Athleten in der gesamten globalen Wettkampfstruktur» zu berücksichtigen.

Der deutsche Starter Patrick Dogue reagierte ebenfalls gereizt auf Werths Kritik: «Das Pferd wiegt 600 Kilo, Annika wiegt 50. Dass das Tierquälerei ist, da muss schon mehr passieren. Und im normalen Reitsport passiert auch mehr.»

Änderungen kommen trotzdem, das Format in Paris ist fernsehtauglich komprimiert auf 90 Minuten und der ganze Stolz des Dachverbands. «Man muss uns nicht auffordern, über das Regelwerk nachzudenken. Das tun wir permanent», sagte Schormann. «Wir haben das Regelwerk überarbeitet schon die letzten drei Jahre und haben all das, was jetzt kritisiert wird, schon längst zu Papier gebracht.» Was genau auf dem Kongress im November beschlossen werden soll, um das Zusammenspiel zwischen Mensch und Tier zu verbessern, blieb unklar.

Von Maximilian Haupt, Miriam Schmidt und Jordan Raza, dpa