Was bleibt von der EM?

Diese EM macht Fans von Angriffsfußball Hoffnung für die Zukunft. Die Zeit der zynischen Ergebnisverwaltung scheint vorbei, selbst die einstigen Catenaccio-Verfechter aus Italien setzten auf Spektakel.

«Es war schön zu sehen, dass die meisten Mannschaften nicht abgewartet, sondern ihr Heil in der Offensive gesucht haben», urteilte der frühere Nationalmannschaftskapitän Michael Ballack bei Magenta TV. Es sei erfreulich, «dass bei aller guten Organisation wieder attraktiver Fußball gespielt wird». Die taktischen Trends dieser EM und ihre Bedeutung für die weitere Entwicklung.

TAKTISCHE FLEXIBILITÄT: Es gewinnen die Teams, deren Trainer im Spiel sowie im Turnier situativ reagieren können und nicht starr auf ein System vertrauen. Im Achtelfinale gegen Deutschland änderte Gareth Southgate seine Abwehrformation und hatte damit Erfolg. Auch während der Partien agierte England flexibel, spielte defensiv mit einer Vierer-Abwehrkette, die sich häufig im Aufbau zu einer Dreierkette änderte. Dänemarks Trainer Kasper Hjulmand besaß den Mut, gleich mehrfach früh im Spiel seine Formation zu variieren. Bei Deutschland kamen zu wenig solcher Impulse durch erfolgreiches In-Game-Coaching.

PASSENDE SPIELERTYPEN: Eine von Italiens Erfolgsformeln: Das 4-3-3-System von Trainer Roberto Mancini funktionierte perfekt mit seinen Spielern. Schnelle, wendige Außenstürmer wie Lorenzo Insigne und Federico Chiesa wären im klassischen System der Azzurri mit zwei Stürmern deutlich weniger effektiv. Joshua Kimmich konnte seine Stärken auf der rechten Seite beim DFB-Team hingegen nicht entfalten, Portugals Fernando Santos fand nie einen Weg, den überragenden Premier-League-Profi Bruno Fernandes einzubinden.

OFFENSIVGEIST: Im Schnitt fielen bis zum Finale 2,8 Tore pro Partie, so viele wie noch nie, seitdem nicht mehr nur vier Teams an der Endrunde teilnehmen. Ein Grund dafür: die grundsätzlich offensive Ausrichtung vieler Teams. Unansehnlicher Mauerfußball führt nur noch selten zum Erfolg, selbst England trat als stabilstes Team im Turnier aus einer soliden Struktur mit Tempowechseln durchaus offensiv auf. Im Vergleich zur vorigen EM ist auch eigener Ballbesitz anstelle reiner Konter-Strategien wieder en vogue: Die Top-Nationen besitzen die größeren Spielanteile.

Trainer-Legende Arsène Wenger lobte im Vergleich zu früheren Turnieren aber auch die vermeintlich kleineren Teams. «Sie haben nicht nur um ihr Leben verteidigt, sie haben auch in Ballbesitz versucht, die Initiative zu übernehmen», sagte der Franzose, der bei der FIFA die Entwicklung des Fußballs verantwortet, dem «Kicker». Reiner Ballbesitz ohne schlagkräftige Stürmer führt allerdings nicht zum Erfolg.

CORONA-REGELN: Die Torverteilung weist auf einen anderen möglichen Faktor hin, der direkt mit der Coronavirus-Pandemie zusammenhängt. So stieg die Anzahl der Treffer in der ersten Halbzeit im Vergleich zur EM 2016 moderat um 20 Prozent, in der zweiten Hälfte war es hingegen ein Plus von mehr als einem Drittel. Erstmals bei einem großen Turnier durften die Trainer wegen der Belastungen in der Corona-Zeit fünf statt drei Wechsel pro Partie vornehmen. Die Folge: frischere Spieler für offensiven Drang auch in der Schlussphase. Die internationalen Regelhüter haben beschlossen, dass in internationalen Spielen diese Ausnahme bis zum Sommer 2022 gelten darf. Die Bundesliga berät am Mittwoch, ob auch kommende Saison fünfmal gewechselt werden darf.

EIGENTORE: Dass «Eigentor» die Torjägerliste anführt, wurde schnell zum Running Gag der EM. Im Turnier trafen vor dem Finale elf Spieler ins eigene Tor, zuvor waren es bei allen Europameisterschaften zusammen nur neun Eigentore gewesen. Der Trend ist nicht neu. Schon bei der WM 2018 in Russland wurde mit zwölf ein Rekord aufgestellt. «Das könnte daran liegen, dass es mehr Durchbrüche zur Grundlinie und ein höheres Spieltempo gibt und dass sich mehr Spieler an der Offensive beteiligen», sagte Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus. «Für die Abwehrspieler ist es dann mit Blick zum eigenen Tor unheimlich schwierig, die scharfen Hereingaben zu verteidigen.»

DREIERKETTE: Als Thomas Tuchel beim FC Chelsea antrat, änderte der Ex-Bundesligacoach die Abwehrformation – und führte die Londoner zum Champions-League-Triumph. Auch international geht der Trend zur Kette mit drei Verteidigern: Zu 40 Prozent setzten die Teams bei der EM darauf. Die Vorteile: Ein breiteres Spiel mit zwei Außen, die entweder defensiv oder offensiv orientiert sind. Doch die Möglichkeit, mit fünf Spieler anzugreifen oder zu pressen, führt nicht automatisch zum Titel wie die Beispiele Deutschland und Niederlande zeigen.

Von Florian Lütticke und Jan Mies, dpa