Wembley-K.o.: England schickt Löw in Bundestrainer-Rente

Plötzlich war für Joachim Löw da nur noch Leere. Das monotone Brummen der Rasenmäher auf dem heiligen Rasen von Wembley war für den Rekord-Bundestrainer nach dem 0:2-K.o. gegen England der bittere Abschiedssound nach dem abrupten Ende seiner Ära.

«Die Enttäuschung ist da. Viel mehr Gedanken sind nicht möglich», sagte Löw. Mit seiner letzten Turnier-Mission ist der 61-Jährige im Achtelfinale mit der Fußball-Nationalmannschaft zu früh gescheitert – zwölf Tage vor dem erhofften letzten Endspiel-Date bei der Europameisterschaft.

Große Enttäuschung im deutschen Team

Joshua Kimmich weinte in Wembley Tränen der Enttäuschung. Der mit der persönlichen Negativmarke von sieben EM-Gegentoren nach Hause geschickte Manuel Neuer dachte aber erstmal an den Bundestrainer, unter dem er alle seine bisher 104 Länderspiele bestritt. «Es war ein sehr trauriges Gefühl, als ich den Jogi gesehen habe. Er hat eine klasse Ära geprägt», sagte der DFB-Kapitän. 198 Länderspiele in 15 Jahren – Löw konnte nach dem WM-Triumph von 2014 keinen weiteren Fußball-Gipfel erklimmen.

«Wir hätten uns natürlich was anderes erhofft», sagte Löw. «Im Moment ist bei allen Spielern Totenstille, alle Spieler sind maßlos enttäuscht.» Routinier Toni Kroos bezeichnete das Aus als insgesamt «sehr, sehr bitter».

Löw wirkte aber auch schnell wieder gefasst. Frustration ja, Schwarzmalerei nein. So schlimm wie 2018 nach dem historischen WM-K.o. ist die Bilanz nicht. In seiner letzten Pressekonferenz als Bundestrainer blieb er auch nach dem zu mutlosen Spiel vor mehr als 40.000 euphorisierten England-Fans nicht hoffnungslos.

Dieser, seiner letzten DFB-Mannschaft, traut er beim EM-Heimturnier 2024 unter Nachfolger Hansi Flick den großen Wurf zu, der diesmal Wunschdenken blieb. «Kaltschnäuzigkeit» fehlte, konstatierte Löw. «Die Mannschaft muss noch reifer werden», sagte er – und verschwand mit einem letzten «vielen Dank» in den Katakomben von Wembley.

Auf der Tribüne hatte Englands Fußball-Idol David Beckham kurz zuvor gegrinst und sich die Hände gerieben. Die englischen Fans sangen nach dem ersten K.o.-Sieg gegen Deutschland seit 55 Jahren inbrünstig «Football’s coming home». Im Gegensatz zum WM-Endspiel 1966 brauchten die Three Lions kein historisch zweifelhaftes Lattentor, um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft erstmals wieder in einem entscheidenden Turnierspiel zu bezwingen. Löw hatte wieder einmal, als es schief lief im deutschen Spiel, keinen Plan B parat.

Sterling und Kane sorgen machen die Tore

Raheem Sterling (75. Minute) und Harry Kane mit seinem ersten EM-Treffer (86.) erzielten die Tore der Engländer gegen eine in der spannungsgeladenen Stimmung viel zu harmlose DFB-Elf. Thomas Müller vergab in der 81. Minute bei einer der wenigen deutschen Tormöglichkeiten die Chance auf den Ausgleich.

Während die DFB-Elf zum Flughafen eilte und nur zum kollektiven Kofferpacken nach einem Turnier mit mehr Schatten als Licht noch einmal ins EM-Quartier in Herzogenaurach zurückkehrt, um dann frustriert den Sommerurlaub anzutreten, geht die EM-Reise der Engländer weiter. Am Samstag soll im Viertelfinale gegen die Ukraine in Rom das Ticket für die nächste Wembley-Partie im Halbfinale gelöst werden. Der 11. Juli steht als Endspiel-Tag ganz dick im englischen Fußball-Kalender.

Löw und seine glücklosen DFB-Stars haben hat dann ungewollt frei. Im September startet Flick als neuer Bundestrainer mit der Fortsetzung der WM-Qualifikation für Katar 2022 ein neues Kapitel – viel Arbeit wartet nach der EM-Enttäuschung auf den einstigen Löw-Assistenten und Bayern-Erfolgscoach. Aufbauarbeit Richtung Heim-EM. Aber die schwarz-rot-goldenen Fans erwarten eine schnellere Heilung der Turnier-Wunden. Wie groß der personelle Neuanfang sein wird, ist spannend. Mats Hummels wollte gleich nach dem Schlusspfiff nicht über ein diesmal freiwilliges Ende im DFB-Trikot entscheiden.

Kollektiver Kniefall vor dem Anpfiff

Die Deutschen traten an diesem spannenden Fußball-Abend nur zu Beginn engagiert auf, nachdem beide Teams schon vor dem Anpfiff ein starkes Zeichen gesetzt hatten. Dem gemeinsamen Kniefall der Spieler schloss sich Löw an. Der 61-Jährige ging wenige Sekunden vor dem Anstoß wie auch sein englischer Kollege Gareth Southgate als Zeichen gegen Rassismus mit einem Knie auf den Boden.

Schon Stunden vor der Partie feierten Fans rund um das Stadion eine feucht-fröhliche Party. Auf den Sitzen waren auch schwarz-rot-goldene Fahnen ausgelegt, die fast ausschließlich einheimischen Fans sangen und lärmten und zelebrierten eine EM-Sause. Seit November 2019 hatte eine deutsche Nationalmannschaft wegen der Coronavirus-Pandemie nicht mehr vor solch einer Kulisse gespielt.

In der Anfangsphase beflügelte dies die DFB-Elf. Leon Goretzka, der bei seinem ersten Startelf-Einsatz bei diesem Turnier wie erwartet Ilkay Gündogan (Schädelprellung) ersetzte, war nach einem feinen Pass von Thomas Müller kurz vor der Strafraumgrenze nur durch ein Foul zu stoppen (8.). Den Freistoß aus zentraler Position schoss Kai Havertz aber in die englische Mauer. Neben Goretzka war auch Havertz‘ Chelsea-Kollege Timo Werner neu in die Startelf gerückt. Der Angreifer hatte nach einer guten halben Stunde die beste Chance zur Führung, scheiterte aber an Keeper Jordan Pickford (32.). Zwanzig Minuten vor Schluss musste Werner raus, für ihn kam Serge Gnabry.

Zu viele verlorene Zweikämpfe

Zwischen den beiden Chancen und in der Viertelstunde vor der Halbzeit dominierten aber die Engländer. Die Deutschen verloren zu viele Zweikämpfe im Mittelfeld, die Three Lions spielten aggressiver und erarbeiteten sich zeitweise ein deutliches Übergewicht. Löw verschränkte die Arme. Löw winkte frustriert ab. Was er da auf dem heiligen Rasen sah, konnte ihm überhaupt nicht gefallen. Sinnbildlich stand zu diesem Zeitpunkt Bayern-Profi Müller, der (zu) viel im leeren Raum rannte und versuchte, seine Mitspieler anzutreiben.

Doch Kimmich war ständig in der Defensive gebunden und konnte offensiv kaum Akzente setzen. Dies gelang den Engländern besser. Sterling scheiterte mit einem Schuss an Neuer, der wie sein Gegenüber Kane eine Kapitänsbinde in Regenbogenfarben als Zeichen für Toleranz und sexuelle sowie geschlechtliche Vielfalt trug (16.). Auch im Prestigeduell mit den Engländern hielt Löw an seiner Grundformation im 3-4-3 System fest. Sein Kollege Southgate änderte sein System und stellte in der Abwehr auf eine Dreierkette um, die wenige Minuten nach Wiederanpfiff fast bezwungen war.

Doch den großartigen Dropkick von Havertz lenkte Pickford reaktionsschnell über die Latte (48.). Wieder gehörte die Anfangsphase vor den Augen von Prinz William (39), dessen Frau Kate (39) und Sohn George (7) sowie Popstar Ed Sheeran (30, «Shape Of You») und Beckham (46) dem DFB-Team – wieder aber währte die Drangphase zu kurz. Stattdessen sorgten der starke Sterling und Kane mit seiner Turnierpremiere für den deutschen K.o.

Von Arne Richter, Nils Bastek und Wolfgang Müller, dpa