«Yes, you can!»: Zverevs Angriff auf ersten Grand-Slam-Titel

Von den roten Pfingstrosen als Willkommensgeschenk machte Alexander Zverev ein Foto für Social Media. Am Ende seiner Titelmission von Paris soll in seinem Hotelzimmer aber etwas Silbernes glänzen: Der Coupe des Mousquetaires für den Sieger der French Open. Nach seinem Triumph bei der Generalprobe in Rom will der deutsche Tennisstar seinen ersten Grand-Slam-Sieg holen und den Untertitel seiner eigenen RTL-Doku Lügen strafen: «Der Unvollendete».

Zweimal stand er schon ganz dicht vor einem Major-Triumph. 2020 beim US-Open-Finale verspielte Zverev gegen seinen österreichischen Kumpel Dominic Thiem eine 2:0-Satzführung. Anderthalb Jahre später begegnete er im French-Open-Halbfinale Rekordchampion Rafael Nadal auf Augenhöhe, ehe er auf der roten Asche umknickte und auf dramatische Weise nicht nur das Match, sondern auch seinen Traum vom Gesamtsieg und der Weltranglisten-Führung aufgeben musste.

Becker und Petkovic sind zuversichtlich

«Die letzten zwei Jahre waren sehr schwierig», sagte Zverev, der nach seiner Fußverletzung lange um den Anschluss an die Weltspitze kämpfte. «Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder auf dieser Bühne spielen kann.» Die Antwort gab er sich mit seinem Masters-1000-Triumph vergangenen Sonntag in Rom selbst. In italienischen Zeitungen wurde er als «Alexander der Große» gefeiert. Folgt nun in Paris die Krönung?

«Die Sterne stehen extrem gut» – mit diesen Worten hatte Deutschlands Tennis-Ikone Boris Becker seinem Nachfolger schon vor Monaten ein erfolgreiches Tennisjahr 2024 vorausgesagt. Angesichts von Zverevs Topform und der schwächelnden Konkurrenz sind die Chancen nochmals gestiegen. «Es ist immer ein bisschen unfair, weil es den Druck auf ihn erhöht, dass er unbedingt gewinnen muss», sagte Ex-Spielerin Andrea Petkovic bei Sky: «Ich würde eher sagen: Er kann.» In bester Barack-Obama-Manier warf Petkovic dem Hamburger vor laufender Kamera auch ein motivierendes «Yes, you can!» zu.

Berechtigte Hoffnungen auf ein Erreichen der zweiten Turnierwoche in Roland Garros macht sich auch Jan-Lennard Struff nach seinem ATP-Sieg in München auf Sand. Bei den Frauen will die frühere Weltranglistenerste Angelique Kerber bei ihrem zweiten Grand-Slam-Turnier nach der Rückkehr aus ihrer Babypause deutlich besser abschneiden als beim Erstrunden-Aus bei den Australian Open. Doch realistische Titelchancen hat aus deutscher Sicht nur Zverev.

Zverevs Konkurrenten schwächeln

Dies drückt sich auch in der Weltrangliste aus, in der der 27-Jährige erstmals seit seiner schweren Fußverletzung wieder in die Top-4 vorgerückt ist. Angenehmer Nebeneffekt: Dadurch geht er mindestens bis zum Halbfinale den drei anderen großen Turnierfavoriten Novak Djokovic, Jannik Sinner und Carlos Alcaraz aus dem Weg – sofern überhaupt alle starten. Alle drei und auch Rekordchampion Rafael Nadal hatten zuletzt mit Verletzungen zu kämpfen.

Klar ist: Zverev will seine Chance nutzen und scheut dafür kein Risiko. Er wolle sein «aggressivstes Tennis spielen», betonte er. Analysen zeigen, dass der Australian-Open-Halbfinalist bei seiner eher schwächeren Vorhand in Sachen Kontrolle und Geschwindigkeit deutliche Fortschritte gemacht hat. Auf seine Rückhand und vor allem seinen Aufschlag kann er sich ohnehin verlassen.

Wie macht sich der Prozessbeginn bemerkbar?

Was spricht also gegen ihn? Womöglich könnte der während der French Open am 31. Mai angesetzte Beginn des Prozesses wegen des Vorwurfs der Körperverletzung vor dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin seine Konzentration beeinflussen. Schon während der Australian Open war das Thema von internationalen Medien aufgegriffen und auch Zverevs Kontrahenten dazu befragt worden. Damals hatte er sich davon nach eigener Aussage nicht abgelenkt gefühlt.

Zverev soll eine Geldstrafe von 450.000 Euro (90 Tagessätze zu je 5000 Euro) wegen Körperverletzung zahlen. Er weist den Vorwurf jedoch zurück und hat Einspruch eingelegt. Ihm wird zur Last gelegt, im Mai 2020 in Berlin bei einem Streit eine Frau körperlich misshandelt zu haben. Die mutmaßlich Geschädigte tritt in dem Verfahren als Nebenklägerin auf. Zverev muss selbst nicht vor Gericht erscheinen. Bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt für Zverev die Unschuldsvermutung.

Jörg Soldwisch, dpa